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  •  EINESTAGES Mittwoch, 02.08.2017

Vergessene Sütterlinschrift

Ururomas Liebesbriefe

Sie retten die Geheimnisse unserer Vergangenheit: Hamburger Senioren entziffern alte, für Laien unleserliche Schriften. Der weltweit angefragte Verein fördert Schockierendes zutage - aber auch Wunderschönes.
Von Katja Iken, Fotos Patrick Pleul/ DPA
Sütterlinstube Hamburg: Historisches Puzzle


"Mein Heinrich, wenn wir uns erst wiedersehen! Die Stunde und den Tag stelle ich mir als den schönsten meines Lebens vor, wie oft, wie glücklich male ich es mir jetzt schon aus!"

Als Helene diese Zeilen schreibt, ist Heinrich schon fünf Jahre in Australien. Zwei weitere bleibt er noch, bevor er 1862 zu Helene nach Hamburg zurückkehrt, die Taschen voller Geld. Endlich eine gute Partie für sie, die Tochter aus bestem Unternehmerhause.

Sieben Jahre lang vergehen die beiden fast vor Sehnsucht, getröstet nur durch Briefe, die sechs Monate unterwegs sind, oft aber auch verloren gehen. 33 blieben erhalten. Eine Flut von Schnörkeln auf hauchzartem Papier, mal hellblau, mal beige. Hübsch anzuschauen - und nahezu unleserlich.

Was genau drinsteht, dass Helene diverse Heiratsanträge anderer Männer ausschlug, wie erzürnt der Vater zunächst darüber war, all das weiß Anne Wenzel erst jetzt - dank der Sütterlinstube Hamburg. "Plötzlich entstand ein Bild der beiden, mit all ihren Ängsten und Hoffnungen", sagt die 56-jährige Hamburgerin und strahlt, zärtlich streichelt sie über die eng beschriebenen Blätter.
Familiengeschichte ist der Grafikerin wichtig, ihre Ahnen kann sie mütterlicherseits bis ins Jahr 1530 zurückverfolgen.

Eine Gruppe von Hamburger Senioren entzifferte für Wenzel die mit heißem Herzen verfassten Treueschwüre, die da vor 150 Jahren zwischen Hamburg und Lyndoch Valley hin- und hergingen. Silbe für Silbe, eine Knochenarbeit - spannend wie ein Krimi. "Man wollte unbedingt wissen: Wie geht es nun weiter? Halten sie durch?", sagt der Vorsitzende der Sütterlinstube, Erich Witte.

Know-how aus dem Altersheim

Der 76-Jährige sitzt mit einem Dutzend Gleichgesinnter im Altenzentrum Ansgar in Hamburg-Langenhorn um einen langen Tisch. Die Gruppe trifft sich einmal in der Woche in dem Rotklinkerbau, ganz hinten rechts, vorbei am Aquarium und den Schaukästen voller Fossilien, Seesterne, aufgespießter Schmetterlinge.

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Sütterlinstube Hamburg: Historisches Puzzle

Mittwochs nachmittags werden neue Aufträge verteilt, wechseln bunte USB-Sticks den Besitzer. Gerhard Koerth, Jahrgang 1929, ergattert einen orangefarbenen mit der Nummer elf, darauf das digitalisierte Tagebuch eines Schülers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Wandervogelbewegung engagiert war. "Gehirnjogging" nennt Koerth das, was vor ihm liegt: die Übertragung des Tagebuchs in die lateinische Schrift.

Der ehemalige Unternehmensberater ist einer der ältesten Mitarbeiter der Sütterlinstube. Rund 40 aktive Mitglieder hat der gemeinnützige Verein derzeit, die Idee stammt vom Pfarrer der Ansgar-Kirchengemeinde, zu der das Altenheim gehört. Eine sinnvolle Beschäftigung für Senioren: soweit 1996 der Anfangsgedanke. Doch schnell wurde mehr daraus.

Mittlerweile hat die Sütterlinstube Hamburg rund 3500 Aufträge bearbeitet, ist sechs Monate im Rückstand, erhält Anfragen aus aller Welt. "Wir werden regelrecht überrannt", sagt Witte. Denn die Senioren können nicht nur Sütterlin entziffern, jene 1911 vom Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin vereinheitlichte Normschrift, sondern auch ältere, etwa die Kurrent- oder die Kanzleischriften.

Dachböden voller ungehobener Schätze

Die Hamburger Einrichtung, kürzlich vom Senat der Stadt für ihre Verdienste ausgezeichnet, funktioniert ehrenamtlich, gibt aber für jeden Auftrag die geleistete Stundenzahl an und freut sich über Spenden. Rund 35.000 Euro kommen pro Jahr zusammen - so viel, dass das Finanzamt schon mehrfach nachgefragt hat. Das Geld wird in soziale und kulturelle Projekte, vor allem aber in die Altenhilfe gesteckt.

Manchmal verzweifeln die Senioren schier: Keine Handschrift gleicht der anderen, viele Begriffe sind heute nicht mehr gebräuchlich. Oder wer kennt noch das Maß Wispel? Den Ausdruck Spurius für uneheliches Kind? Das alte deutsche Wort Hornung für Februar? Die Enträtselung der Vergangenheit gleicht einem Puzzlespiel, das den belohnt, der nicht aufgibt. "Es eröffnen sich neue Welten", begründet Brigitte Balkow ihr Engagement.

Jeder Text konfrontiert die Mitglieder der Sütterlinstube mit einer anderen Epoche, einem anderen Schicksal: "Man freut sich, man leidet mit, man fühlt sich abgestoßen", so Rolf Lieberich. Mal geht es um Lösegeldforderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, mal um einen Augenzeugenbericht über die Schlacht bei Waterloo 1815, mal um Zeugnisse jüdischer NS-Opfer aus dem KZ. Nur eines verbindet die ins Leserliche zu übertragenden Dokumente: "Man bleibt nie unberührt", so Lieberich, der früher Staatsanwalt war.

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Der Handschriften-Test: Können Sie das entziffern?

Woche für Woche trudeln neue Tagebücher und Briefe, Postkarten, Urkunden und Kochbücher ein, das Interesse an der Vergangenheit ist enorm. Was hat Opa im Krieg gemacht? Wie erlebte der Ururonkel die Auswanderung nach Kalifornien? "Unsere Dachböden sind voller ungehobener Schätze", sagt Witte.

Schätze, die zu heben emotional belastend sein kann: Oft sind die Senioren mit Texten aus einer Zeit konfrontiert, die sie selbst miterlebt haben. Gerhard Koerth etwa kann sich an die Schrecken der Hitlerdiktatur gut erinnern. Noch heute hat er das schlurfende Klappern der Holzschuhe im Ohr, wenn die jüdischen Zwangsarbeiter in Posen nachts unter seinem Fenster vorbei zur Munitionsfabrik getrieben wurden.

"Da fällt die Arbeit dann sehr schwer"

Für ihn, der im Frühjahr 1945 als Kanonenfutter für den "Volkssturm" verpflichtet wurde, ist es eine spezielle Herausforderung, Briefe vertriebener Juden zu transkribieren. Oder aber die handschriftlichen Notizen von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, in denen sich der einstige Chef des Oberkommandos der Wehrmacht beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg als Befehlsempfänger stilisierte. "Ohnmacht" habe sich eingestellt, sagt Koerth. Und "Trauer über das Elend", das der Krieg so vielen Menschen gebracht hat.

Auch Peter Koeppen wuchs während der Naziherrschaft heran. Einmal musste er Briefe eines NS-Propagandaoffiziers übertragen: "Du wolltest ja mal teilnehmen an einer Erschießung. Wann passt es Dir besser, vormittags oder nachmittags?", hatte dieser einem Bekannten geschrieben. "Da fällt die Arbeit dann sehr schwer", sagt Koeppen, Jahrgang 1929 wie Koerth.

Noch schwieriger kann es jedoch für die Auftraggeber werden - mitunter erfahren sie schockierende Details aus dem Leben ihrer Ahnen. Barbara Schmidt (Name von der Redaktion geändert) ließ 2015 die rund 150 Briefe ihrer Großeltern übertragen: beides glühende Nationalsozialisten, sie BDM-Funktionärin, er SS-Mitglied.

Unauflösbarer Widerspruch

"Meine Existenz basiert auch darauf", sagt die 36-Jährige. Natürlich seien ihre Großeltern, so Schmidt, "scheiß Nazis" gewesen: verblendete Diener einer menschenverachtenden Ideologie. Gleichzeitig aber auch ganz normale junge Menschen, die einander vermissten, Feste feierten, gern Torte aßen. "Mit diesem unauflösbaren Widerspruch muss ich leben", sagt die studierte Politologin.

Für Schmidt ist die Auseinandersetzung mit dem familiären Erbe noch längst nicht zu Ende. Derzeit versucht sie Näheres über die SS-Einheit ihres Großvaters herauszubekommen, der nach einem Jahr russischer Kriegsgefangenschaft freikam, für seine Taten nie belangt wurde.

Auch Anne Wenzel, die Ururenkelin von Heinrich und Helene, begibt sich weiter auf Spurensuche. Kürzlich war sie in Glückstadt, um das Elternhaus von Heinrich zu suchen, eine alte Gastwirtschaft. Das Haus ist wohl abgerissen worden. Doch die Gefühle des Mannes, der einst darin gelebt hatte, sind für die Nachwelt gerettet, dokumentiert in einer wunderschönen, dank der Sütterlinstube lesbaren Liebesgeschichte.

"Good bye, South Australia, mein zweites Vaterland, mit schwerem Herzen verlass' ich dich, doch alles, alles wiegt nicht die Liebe meiner geliebten Helene auf", schrieb Heinrich in seinem letzten Brief. Bevor er endlich zurück nach Hamburg fuhr und die schöne Tochter seines einstigen Chefs zum Traualtar führte.

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