Presseberichte

Preußische Allgemeine Zeitung

  • Preußische Allgemeine Zeitung
  • Folge 37-10 vom 18. September 2010

Vor dem Vergessen bewahrt

Hamburger Senioren übertragen ehrenamtlich Sütterlinschrift in lateinische – Anfragen kommen aus aller Welt.

Für die junge Generation ist sie ein Rätsel, die alte deutsche Schrift. Sie können die Briefe und Dokumente aus dem Nachlass ihrer Großeltern oft nicht entziffern. Hilfe gibt es bei Senioren, die solche Texte übertragen können.

Seit Jahren versucht Susanne Wittek herauszufinden, was ihr Vater – der in der NS-Zeit als Schriftsteller tätig war – wirklich gedacht hat. In seinem Tagebuch hat er festgehalten, was in den Kriegsjahren geschah, doch die studierte Volkswirtin kann es nicht entziffern – es ist in Sütterlin geschrieben. Um mehr über die Vergangenheit herauszufinden, wendet sie sich nun an die Sütterlinstube in Hamburg. „Ich wüsste nicht, wie ich sonst über das Leben meiner Eltern etwas erfahren sollte, dadurch dass sie beide tot sind und ich, während sie noch lebten, davon abgesehen habe, danach zu fragen”, sagt Wittek.

Zuerst über die Stadtteilgrenzen von Langenhorn hinaus, dann landesweit und inzwischen auf der ganzen Welt findet die Arbeit der „schriftgelehrten” Ruheständler Anerkennung und Beachtung. Der Beginn der Sütterlinstube war dabei wenig spektakulär: 1996 von einem ortsansässigen Pastor mit der Absicht gegründet, den Senioren eine interessante Nachmittagsbeschäftigung bieten zu können, hat sich die Idee der Sütterlinstube jedoch längst verselbständigt. Das Wissen der Senioren ist bei Nachgeborenen heiß begehrt, denn nur wenige Menschen können die alte deutsche Kurrentschrift und die sogenannte Sütterlinschrift, die das preußische Kultur- und Schulministerium im Jahr 1911 von dem Berliner Graphiker Ludwig Sütterlin (1865 - 1917) entwickeln ließ, überhaupt noch lesen. Sütterlin sollte seinerzeit für die seit fast 500 Jahren nebeneinander bestehenden lateinischen und deutschen Schreibschriften einheitliche Regeln und Schreibweisen entwickeln. 1915 führte man beide Schriftarten offiziell an Grund- und Volksschulen in Preußen ein. Heute wird als „Sütterlinschrift” nur die von Sütterlin normierte deutsche Schrift benannt. Seit 1941/42 durfte auf Erlass der Nationalsozialisten dann nur noch die „lateinische Normalschrift” gelehrt werden, und so sind die alten Schriften heute praktisch ausgestorben. Für die Mitglieder der Sütterlinstube sind sie hingegen vertraut. Einmal pro Woche treffen sich die Senioren, die aus ganz Hamburg und dem Umland kommen, um gemeinsam Texte zu übertragen. Dr. Peter Hohn, der erste Vorstandsvorsitzende, nimmt alle Anfragen per Post und E-Mail entgegen und verteilt sie an die Senioren weiter. Wenn die Dokumente übertragen sind, leitet er sie an die Einsender zurück.
Die Senioren wollen mit ihrer Arbeit Privatpersonen unterstützen, die sich teure Experten finanziell nicht leisten können. Briefe, Familienchroniken, Gedichtsammlungen, Kochbücher, Poesiealben, Tagebücher, Testamente, Urkunden und Verträge werden ihnen vorgelegt. Kurzum: Durch die Arbeit der Senioren wird vieles aus dem Alltag früherer Generationen bewahrt, was sonst in Vergessenheit geraten würde. Immer mehr sind sie dabei auch mit Primärliteratur aus dem 18. und 19. Jahrhundert befasst, die für Forschungsarbeiten benötigt wird.

Die Senioren arbeiten alle ehrenamtlich, wer sich erkenntlich zeigen will, kann spenden. Seit dem 6. Mai 2009 ist die Sütterlinstube ein eingetragener Verein, der sich mit einem viersprachigen Auftritt (deutsch, englisch, französisch und spanisch) im Internet präsentiert.

Die Anfragen kommen aus aller Welt, insbesondere von Nachfahren deutscher Auswanderer aus Australien, Südamerika und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie von jüdischen Flüchtlingen. Über 300 Anfragen hatten die Senioren allein im vergangenen Jahr, von wenigen Zeilen bis zu Hunderten von Seiten. Schwierig ist es, wenn es sich um mundartliche Texte handelt, die Schrift schwer lesbar ist oder wenn Dokumente im Laufe der Jahrzehnte verblasst sind. Spektakuläre Aufträge waren beispielsweise Augenzeugenberichte der Schlacht bei Waterloo 1815, die aus dem Jahre 1837 stammten, und die Tagebücher von SS-Reichsführer Heinrich Himmler aus dessen Münchner Studentenzeit. „Das ist auch Seelsorgerarbeit”, sagt der Vereinsvorsitzende Peter Hohn. „Denn in aller Regel wissen die Leute nicht, was da wirklich steht.” Und oft enthält der Nachlass der Vorfahren nicht nur Schönes – Feldpost oder Briefe aus Konzentrationslagern verlangen auch den Übersetzern einiges ab. „Aber wir bekommen so auch geschichtliches Hintergrundwissen, das wir sonst nicht hätten”, erklärt Hohn den durchaus wissenschaftlichen Beitrag der Sütterlinstube. „Geschichte von unten” nennt er das, und was der Nachwelt erhalten bleibt, fließt mitunter in Bücher und die Arbeit von Gedenkstätten ein, wie etwa die Briefe, die ein deutscher Propagandaoffizier einst schrieb, und die dessen Sohn zu einem Dokudrama verarbeitet hat, oder die Briefe der Familie von einem jüdischen Häftling, der im KZ Fuhlsbüttel in Untersuchungshaft war.

„Ich bin den Senioren der Sütterlinstube unendlich dankbar, dass sie das Tagebuch für mich transkribiert haben”, sagt Susanne Wittek, die mit ihrer Anfrage auch erfolgreich war, „so kann ich endlich einen Blick in die Vergangenheit werfen.” 

Corinna Weinert

Weitere Informationen: Sütterlinstube Hamburg, Altenzentrum Ansgar, Reekamp 49-51, 22415 Hamburg oder im Internet unter www.suetterlinstube-hamburg.de

zurückblättern